Im Tambu-Wald
Gestern hat sich so ein komischer Typ in meinem Garten herumgedrückt. Die Irren werden nicht weniger. Behauptet der doch, er wäre Zeitreisender. Na gut, denke ich, spielst du halt mit, so viel Arbeit habe ich nicht, ich habe meinen freundlichen Tag. Ich frage ganz freundlich, ob er etwas eingeworfen hat. Nein, frage ich nicht. War nur Spaß. Ich frage ihn, in welchem Jahr er gestartet ist und ob seine Badewanne da hinten eine Zeitmaschine ist. Den Schrott soll er aber später wieder mitnehmen. Zeitreise hin oder her.
Er kommt aus dem Jahr 1984. Da muss ich mal rechnen. Ein Zeitsprung von 114 Jahren. Das gibt Ärger. Ich sage ihm das. 114 ist die Zahl von Streit und Gewitter. Er lacht. Stimmt, sagt er. Bei Gewitter wäre er gestartet in der Garage seines Vaters. 16 Jahre ist er alt. Der Zeitreisende, nicht der Vater. Hobbytechniker. Hoffnung der DDR. Er lebt oder lebte, wie man's sieht, im schmutzigsten Dorf Europas, in Mölbis, das heute Kampfstadt heißt und wirtschaftlich wichtig ist für die Produktion von Biorobotern. Da lebe ich auch. Offensichtlich hat er nur die Zeit übersprungen, aber nicht den Raum. Will der mich verarschen?
Er wirkt so, als ob er es ernst meint. Manche Leute glauben ja ihren eigenen Mist, das wirkt auf ihre Umwelt dann sehr überzeugend. Aber Zeitreisender? Seine Gretchenfrage: "In welchem Jahr bin ich hier?". Ich sage ihm, dass wir im Jahre 2098 leben. Ich könnte ihn auch foppen, ich könnte sagen 3010 oder 1529. Nach Buddha, versteht sich. Aber ich bleibe mal schön bei der Wahrheit. Ein netter Kerl irgendwo. Ein bisschen nervös. Ist ja auch kein Wunder nach so einem Zeitsprung.
"Hey, Folks!" Am Gartenzaun grüßt Hermann, der Bioroboter. Das hätte es nicht gebraucht, das war nicht gut. Peter, so heißt der Zeitreisende, tritt ein paar Meter nach vorne, um den Robi näher zu betrachten. Ja, wenn man so etwas noch nicht gesehen hat, dann staunt man. Dann ein entsetzlicher Schrei wie aus einem Horrorfilm aus dem 20. Jahrhundert. Peter liegt flach. Ich habe es befürchtet. Ich schleife ihn ins Wohnzimmer, ohne ihn zu verletzen, schließlich habe ich den Lebensrettungsschein der Stufe Gold. Dann spritze ich ihm Neutro-Opium sensitiv, das beruhigt akut und verhindert längerfristig ein Trauma. Das ist ja bekannt.
Er macht die Augen wieder auf. So völlig ruhig ist er wohl nicht. "Was war denn das? Ich habe ja viel in der Zukunft erwartet, Raumschiffe und so, aber so etwas nicht. Das war eine lebende Leiche, wirklich, ich habe in seine Augen gesehen, da steckt keine Seele in dem Körper". "Das ist richtig, das war kein Mensch, sondern ein Bioroboter." "Für mich sah er aus wie ein Mensch aus Fleisch und Blut, lebendig, aber doch tot. Habe ich noch nie gesehen. Ich habe Leichen gesehen und lebendige Menschen, aber so etwas nicht." "Ja, ein Bioroboter ist auch aus Fleisch und Blut, dafür sind wir hier bekannt in Kampfstadt, Dr. Krankensteins Biotec produziert die besten Bioroboter in ganz Europa. Nur die Chinesen sind besser."
Peter meint, dass es zu viel für ihn sei. Er will nun doch zu seiner Mutter. Ein bisschen verwirrt ist der junge Mann. Seine Eltern würden zwei Straßen weiter wohnen. Schnell fällt ihm ein, dass er vor 15 Minuten 114 Jahre gereist ist und greift sich an den Kopf. "Puh, das ist krass. Ich nehme mal an, Erich Honecker ist tot", sage ich: "Kann man so sagen, Helmut Kohl ist auch tot. Tschernenko auch, Gorbatschow auch." "Wer ist Gorbatschow?" "Ach, lassen wir's. Irgendso ein Politiker. Willst du Kaffee?"
"Gerne, - Kaffee wird noch getrunken, das macht Hoffnung."
"Auch nur bei mir. Kaffee gilt als Gesundheitskiller. Ich rauche sogar Tabak, obwohl ich mir das nicht erlauben kann mit meinen 120 Jahren."
Jetzt lacht er, das kann er nicht glauben. Für mich ist das nichts Neues, ich habe mich seit 50 Jahren daran gewöhnt, dass ich die Erste war, die an dem Verjüngungsexperiment von Dr. Krankenstein Biotec teilgenommen hatte. Stand überall in der Presse. Die erste Frau, die aussieht wie 30, obwohl sie in Wirklichkeit 70 Jahre alt ist. Die Wissenschaftler haben Hoffnung, dass ich ewig leben werde, das wäre ein gewaltiger Sieg für die Menschheit.
Er lacht immer noch, ich sage ihm: "Ich will dich nicht verarschen, das ist der medizinische Fortschritt, ich bin 1978 geboren. Im Jahre 2048 hat sich mein Leben aufs Heftigste verändert, seitdem bin ich ewig jung. Ich bin ein Geno, so nennen wir das in der Umgangssprache. Genos sind allerdings gesetzlich limitiert, damit die Erde nicht überbevölkert wird."
Peter: "Und keine Krankheiten mehr, was?"
Sage ich: "Von wegen, Seuchen über Seuchen gehen übers Land. Die Wissenschaft hat Fortschritte gemacht, das Leben aber hat Rückschritte gemacht. Moment mal, wie heißt du denn?"
Peter: "Peter Hirschberger"
Sage ich: "Ah, der Peter. Ich bin die Elfi, die Achtjährige von der Mädchentoilette."
Sagt er: "Die Elfi. Nee. Also ich will mich jetzt lieber nicht erinnern. Die Zukunft ist aber verdammt nah, muss ich sagen. Ich fühle mich wie zu Hause. Na ja, das bin ich ja auch. Ich muss jetzt schauen gehen, ob mein Elternhaus noch steht."
"Das steht noch. Und wenn du mit Martin Hirschreiter sprechen willst, das geht, das hier geht schneller als hinlaufen."
Ich berühre den Bildschirm. Er schaut nur verwirrt, als sich die Tapete in ein zweites Wohnzimmer verwandelt. Martin sitzt im Sessel.
"Hallo Martin, ich habe hier deinen Urururgroßvater zu Besuch."
Martin: "Was soll der Unsinn? Also ehrlich."
Peter: "Hallo, also ich bin Peter, dein Urururgroßvater, meint Elfi jedenfalls. Es freut mich, meinen Ururenkel endlich mal kennenzulernen. Vor einer halben Stunde saß ich noch in einer Badewanne, jetzt bin ich aus der Wanne raus und lebe 114 Jahre später. War nicht so geplant. Ich habe keine Erfahrung mit Zeitwannen. Vielleicht bin ich der erste Zeitreisende der Welt. Jedenfalls kenne ich keine anderen, nur aus Science-Fiction-Romanen."
Martin: "Ich fasse es nicht."
Peter: "Was ist das denn für eine komische Tapete? Eine Zaubertapete?"
Elfi: "Der Spacescreen, die Nachfolge von Skype. Du denkst, der andere sitzt im selben Zimmer wie du. Alles superscharf und realitätsecht."
Peter Hirschberger: "Was ist denn Skype?"
Elfi: "Später mal, ein andermal."
Martin: "Ich glaube, du bist wirklich aus der Vergangenheit. Ich sehe aber keine körperliche Ähnlichkeit zwischen uns beiden."
Elfi: "Also Leute, wie geht es euch denn? Ich brauche unbedingt frische Luft. Sollen wir uns am Zé do Rock-Denkmal treffen?"
Martin: "Gute Idee, dann dringen wir perverserweise in den heiligen Wald ein."
Der Zeitreisende ist auch einverstanden, wir treffen uns am Zé do Rock Denkmal, Martin hat seine Biopädagogin mitgebracht. Das Wetter ist heiter bis freundlich, alles sehr angenehm, man merkt gar nicht, dass der Weltsauerstoff zurückgeht seit der Abholzung des Amazonas. Unser Zeitreisender betrachtet skeptisch das Zé do Rock Denkmal. "Wer ist der Typ? Ein neuer Bismarck?" Sage ich: "Das weiß keiner so genau, irgendein Kulturfuzzi, der nicht ganz richtig sprechen konnte und noch viel weniger schreiben."
Martin korrigiert: "Das war ein Scherz, jeder Grundschüler kennt Zé do Rock. Weiß ich noch genau. In der zweiten Klasse haben wir noch schreiben gelernt. Ich bin auf eine konservative Schule gegangen, dort haben wir noch lateinische Buchstaben gelernt und keine Bildchen. Ein Diktat geht mir nicht aus dem Kopf:
"mi hav a mini familie. mai mama werk as a profesi, e mai pap is un ingeneer. mi hav a plu yunge sista dat is tidoz anos oud. ela go to secondari scol e laike joca tenis. nashe familie laike spende tempo samen na wikendes. somwen nu go anda na montes o vizita nashe mamimamis. mai sista e mi injoi guke film et este pitsa samen. familie is super importante to mi." Sagt der Zeitreisende: "Ja, das verstehe ich gerade so. Warum verstehe ich das?"
Martin: "Das ist Eurix. Die Sprache für das dynamische Europa. Eurix enthält Vokabeln, die in ganz Europa leicht zu erraten sind. Manche nennen die Sprache auch Europix, das war die ursprüngliche Bezeichnung der Sprache durch Zé do Rock. Doch irgendwie hat sich der Name Eurix durchgesetzt. Man muss einen höheren Steuersatz zahlen, wenn man die Eurisch-Prüfung nicht abgelegt hat. Darum sprechen auch 90% der Bevölkerung in Europa Eurix, natürlich nur als Zweitsprache. Wir reden jetzt ja auch Deutsch."
Cosma Shiva, die Biopädagogin, ergänzt: "Lange Zeit war Zé do Rock in der Null-Kammer. Erst Ernesto Exorcista, der erste Präsident des dynamischen Europas, hat die Sprache zwangsweise per Gesetz eingeführt. Vorher wusste niemand etwas von Europix."
"Was ist eine Null-Kammer?"
Cosma Shiva: "Woher das Wort kommt, weiß ich nicht. Wir haben denkende Maschinen, die herausfinden, welche Personen sich in der Null-Kammer befinden. Eine Nullkammer umschließt lebende oder tote Personen, die nicht sonderlich bekannt sind, deren Wirksamkeit vielleicht da ist, aber niemand merkt es, niemand nutzt es. Unsere denkenden Maschinen finden aber heraus, wer oder was davon nutzbar gemacht wird. Europix bekam damals 100 Punkte als gemeinsame Sprache für das dynamische Europa. Ernesto Exorcista hat gar nicht lange gefackelt. Schon nach ein paar Jahren sprachen alle Eurix. Ja, die Evolution geht immer schneller vonstatten."
Martin: "Auf geht's in den heiligen Wald."
Wir sind ein seltsames und verdächtiges Team. Der Zeitreisende, ich, Martin und seine Biopädagogin gehen in den Tambu-Wald.
Martin: "Eigentlich macht man das nicht, darum machen wir es. Der Wald ist heilig und verboten. Der verstorbene Dr. Krankenstein hat halb Europa wiederaufgeforstet."
Peter: "Krankenstein ist tot? Konnte er sich nicht durch seine Medikamente selbst unsterblich machen?"
Elfi: "Eine Prostituierte hat ihn mit Blausäure vergiftet. Da hilft kein Genbuilding. Auch ich bin nicht wirklich unsterblich. Den Kontakt mit Blausäure sollte ich wirklich meiden."
Wir gehen immer tiefer in den Wald. Tiere mit grünen Augen. Kühe mit lila-weißem Fell. Eigentlich keine Kühe, denn sie haben einen Giraffenhals. Alles Produkte von Dr. Krankenstein Biotec. Wahnsinn, was der Mann geleistet hat. Und erst die erfolgreichen Bioroboter. Als hätte Peter Hirschberger meine Gedanken gelesen, da sagt er: "Ich hoffe nicht, dass in diesem Wald noch mehr von diesen Biotypen herumlaufen, die völlig tot sind."
"Wohl nicht", entgegnet Martin, "in letzter Zeit werden sie weniger, bald verschwinden sie ganz, sie werden nur noch für medizinische Versuche benutzt. Sogar die Leute aus unserer Zeit kriegen jedes Mal einen Schock, wenn sie einer sprechenden Leiche begegnen. Das ist einfach zu gruselig. Menschen stellen Menschen her. Früher waren Roboter noch aus toten Materialien, gelenkt vom künstlichen Denken, aber ein echter Mensch auf Kohlenstoffbasis, der keine Seele hat, das ist dann doch zu viel."
"Ich fasse es nicht, da steht ja meine Wanne, mit der ich durch die Zeit gereist bin. Jedenfalls sieht sie so ähnlich aus. Und da hinten hinter dem Busch muss wohl jemand pinkeln."
Dieser Jemand tritt uns nun entgegen und sagt: "In welchem Jahr befinde ich mich?" Denke ich mir: Geht das schon wieder los, zwei Zeitreisende an einem Tag. Sage ich: "Wir befinden uns im Jahre 2098 im Tambu-Wald von Mölbis. Und du heißt bestimmt Hirschberger." "Stimmt, woher weißt du das? Ich komme gerade aus dem Jahr 2664. Da gibt's nicht viele Hirschbergers."
"Ach, das war nur so eine Intuition von mir. Lass mich raten: Du hast in der Garage deines Vaters eine Zeitwanne gebaut und bist in der Zeit gereist."
"Fast richtig, ich habe die Zeitwanne allerdings in der Dachkammer gebaut, das Haus gehört meiner Frau. Mein Vater ist an einer Überdosis Neutro-Opium sensitiv gestorben. Ein völlig rückständiges Medikament."
Martin: "Wie dem auch sei, willkommen in der Familie, Großvater und Enkel!"
Der neue Zeitreisende sagt: "Ich heiße Hirschberger, doch das ist ja nun bekannt. Wo ich herkomme, nennen mich die Leute aber nur den Spinner. Dabei spinnen die anderen. Sie sind ganz begeistert von einem gewissen Jesus Christus, der wiedergekehrt sein soll. Ich weiß aber, dass es der Satan ist. Der Satan in Menschengestalt. Doch weiß diese Menschengestalt gut zu täuschen. Wie bei Google: Don't be evil!"
Cosma Shiva: "Der Zusammenhang."
Spinner: "Hä?"
Cosma Shiva: "Der Zusammenhang. Ich kann den Zusammenhang nicht einsehen. Was hat ein falscher Christus, der in Wirklichkeit der Satan ist, mit so einer Steinzeitfirma wie Google zu tun?"
Spinner: "Na ja, Google wurde am 4. September 1998 offiziell von Larry Page und Sergey Brin gegründet. Die Gründung war in einer Garage in Menlo Park, Kalifornien. In der Garage haben sie aber keine Zeitwanne gebastelt. Gut, weiß man nicht. Jedenfalls: 1998 plus 666 ergibt zusammen das Jahr 2664. Da komme ich gerade her. Jeder gute Christ müsste jetzt eigentlich mit den Ohren wackeln, wenn er die Zahl 666 hört. Sieg Heil"
Martin zu Peter: "Du, der spinnt"
Elfi: "Er ist ein Spinner. Aber seien wir tolerant, weil heute das Wetter so schön ist."
Peter aus 1984: "Elfi, was machst du eigentlich beruflich?"
Elfi: "Ich liege meistens in meiner Bürowanne. Das ist keine Zeitwanne. Sie ist mit Wasser gefüllt, was kein Wasser ist. Ich werde auch nicht nass davon. So eine Wanne haben heute alle. Das Kunstwasser registriert jeden Nährstoffmangel und führt uns die fehlenden Substanzen zu. Denkendes Wasser gewissermaßen. In diesem Umfeld kann man gut arbeiten. Ich bin Historiendesignerin. Ich gestalte gerade einen Film über Atlantis, natürlich mit Hilfe von denkenden Maschinen, doch auch im Jahre 2098 kann eine Maschine nicht kreativ sein."
"Wir kommen ans Carsten Stemm Denkmal, es steht mitten im Wald. Warum nur? In den Wald soll doch keiner gehen."
Peter: "Hat dieser Carsten auch eine Sprache erfunden?"
Cosma Shiva: "Das hat er wohl. Er soll aber nicht ganz richtig im Kopf gewesen sein. Nichts Genaues weiß man nicht. Eine fremde Macht hat alle sicheren Informationen über ihn ausgelöscht. Man vermutet Aliens hinter der Informationsverwischung."
Martin: "Wenn man vom Teufel redet! Da kommen UFOs auf uns zu!"
Der Spinner: "Teufel auch. UFOs sind Bewusstseinsimplantate des Teufels."
Ich ignoriere den Spinner. Eine fliegende Untertasse landet direkt vor unseren Füßen. Kleine graue Humanoide mit Mandelaugen steigen aus und rufen: "Zeitpolizei! Ihr seid verhaftet. Zwei von euch haben ein Verbrechen gegen die Zeit und somit ein Verbrechen gegen die menschliche Logik begangen. Wir werden euch zum Staatsanwalt für Bewusstseinsverbrechen bringen!" Peter und der Spinner werden von den Aliens abgeführt. Und wir drei Zeiteinheimische sind wieder allein. Das war ein Tag, sage ich euch. Als ich wieder nach Hause kam, war wenigstens die Badewanne aus dem Garten verschwunden. Ein Glück, die Gebühren für den Sperrmüll sind entsetzlich gestiegen.
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